Am 24 Juli 1980 schreibt Richard Paul Lohse im seinem Artikel Besuch bei Ernst Ludwig Kirchner 1938 im TagesAnzeiger: «1937 eröffnet Hitler die Ausstellung „Entartete Kunst“ in München: «Jüdische Kunstmanager in der Schweiz wollen heute dem englischen Volk das als Kunst aufschwatzen, was wir ausgespien haben.» Danach geistert das Zitat herum, es lässt sich aber nicht belegen.
Der Reihe nach. Am 19. Juli 1937 eröffnet «Entartete Kunst», auf der die Nazis moderne Kunst von dem Expressionisten über Dada bis zu Mondrian der Lächerlichkeit preiszugeben suchen, weil es nicht mehr um das reine Abbildern äusserer Wirklichkeit geht. Und weil statt strahlenden Heroen auch die Unterseiten der Gesellschaft thematisiert sind. Allerdings, an der Eröffnung hält Hitler keine Rede. Er ist nicht einmal präsent.
Einen Tag früher, am 18. Juli spricht er an der Eröffnung der «Große Deutsche Kunstausstellung» im neuen Gebäude «Haus der Deutschen Kunst» in München. Diese programmatische Rede umreisst, wie Kunstmaler Hitlers Verständnis von Kunst aussah. Nämlich rückgebunden an ein bestimmtes Volk. Der Rest: Vorwiegend antisemitische Invektiven gegen die Moderne, die Avantgarden und Geschäftemacherei. Aber auch hier findet sich das Zitat nicht.
Gerichtet wäre es gegen die Ausstellung «20th Century German Art», die 1938 in London stattfand, und die als Gegenausstellung zur «Entarteten Kunst» geplant wurde. Massgeblich an der Organisation beteiligt war Lohses damalige Frau Irmgard Burchard, sowie der jugoslawisch-deutsche Schriftsteller Oto Bihalji-Merin und der britische Kunstschriftsteller Herbert Read. In der Ausstellung kam Kunst zusammen, von allen, die heute Rang und Namen haben. Beckmann, Kirchner, Kokoschka, Dix, Grosz, Klee, Marc, Nolde, Schlemmer und viele mehr.
Am 10. Juli 1938, bei der nächsten Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellung in München, geht Hitler dann auf die Londoner Ausstellung ein: Man hat «in diesen Tagen wieder einmal die Welt mit einer Ausstellung beglückt, die bestimmt sein soll, den Gegensatz aufzuzeigen zwischen den kulturträchtigen Leistungen bekannter Novembergrößen vom Stamme der Dada, Kubi usw. und der Armut der heutigen deutschen Kunst. Ich nehme an, daß dabei auch etwas Geschäftsinteresse mitwirken wird. In irgendeiner Form muß doch die Reklametrommel für die bolschewistische Kunstverwirrung gerührt werden. Ihr Ton klingt aber besonders laut und eindringlich, wenn man das nationalsozialistische Deutschland als politischen Verstärker einschalten kann. Man muß den biederen Angelsachsen kurzerhand überfallen mit dem Hinweis auf die Schande der deutschen Kulturbarberei, um ihm dann die angebotenen Kunstwerke dieser Epoche, wenn schon nicht kulturell, so doch wenigstens politisch aufschwatzen zu können. Und man muß sich beeilen, diese Werke noch beizeiten an den Mann zu bringen. Denn Deutschland ist auf so vielen Gebieten in den letzten Jahren vorangegangen, daß die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, daß der „Nazistaat“ am Ende auch in seiner Kulturpropaganda als auf dem richtigen Weg befindlich anerkannt werden wird und damit ein neuer Einbruch in die Front der international-jüdischen Kulturgeschäftemacher eintritt.» Die Schweiz taucht nirgends auf, was sich nachprüfen lässt in Robert Eikmeyers verdientsvollem Bändchen Adolf Hitler: Reden zur Kunst- und Kulturpolitik 1933–1939 von 2004. Fündig wird man auch nicht auf den 2319 Seiten (zum Glück mit Impressum!) von Max Domarus Hitler – Reden und Proklamationen 1932 – 1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen.
Kurzum, das Hitler Zitat von Lohse ist nicht zu finden. Möglich, dass das eine andere Nazi-Charge so gesagt hat. Oder das ein Artikel in der Nazi-Presse sich so äusserte. Aber auch da findet sich nix, und die entsprechenden Artikel sind aufgearbeitet und meist greifbar. Am wahrscheinlichsten: Lohse hat Hitler paraphrasiert. Und aus der ja realen Bedrohung, in der man sich im Zürcher Zett-Haus, einer Ikone des Neuen Bauens, gefüllt mit linken Emigranten und Künstlern, befand, ein Zitat zusammen geschustert. Kann vorkommen. Ärgerlich ist nur, wenn es dann herumzugeistern beginnt. So taucht es auf bei Stephan Lackner, einem der Mitoragnisatoren der Ausstellung, in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. Juli 1988, dort ohne Verweis auf Lohse. Und noch einmal in seinem Aufsatz Exhibiton of 20th Century German Art (in: Stationen der Moderne. Die bedeutendsten Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Berlinische Gelerie 1988, S. 316.), da mit einem Fussnotenverweis auf Lohses TagesAnzeiger-Artikel, der wiederabgedruckt ist in Hans Heinz Holz, Johanna Lohse James und Silvia Markun (Hg.): Lohse lesen, Zürich: Offizin Verlag, 200.
Von den Stationen der Moderne wandert Lohses Zitat dann zu Ein deutscher Maler. Otto Dix und der Nationalsozialismus von Ina Jessen, die schreibt: «Parteinahmen für die in Deutschland als »entartet« diffamierten Künstlerinnen und Künstler – etwa am Beispiel der Londoner exhibition of 20th century german art – wurden von Adolf Hitler scharf angegriffen: »Jüdische Kunstmanager in der Schweiz wollen heute dem englischen Volk das als Kunst aufschwatzen, was wir ausgespien haben.» (S. 155) Die zugehörige Fussnote 401 lautet: «Unbekannt: Introduction, in: Exhibition of 20th Century German Art (Burlington Galleries London), Ausstellungskatalog, 1938, S. 6, zit. nach: Stephan Lackner u. Adkins 1988, S. 316.» Das trägt dann nochmals gehörig zur Verwirrung bei, weil sich im Originalkatalog auch nichts findet. Kunststück! Frau Jessen hat die Fussnote 1 von Lackner verwechselt mit der Fussnote 1 von Helen Adkins, die den nächsten Text schreibt.
Sollte sich jemand finden, der eine plausible Erklärung für das Zitat hat, würde ich hier liebend gerne korrigieren. Aber nur aufgrund von RP Lohse, Stephan Lackner und Isa Jessen sollte man das Zitat nicht mehr anführen.
(Stand 14.8.2023)
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