aus: Dandy-Magazin
Von Thomas Haemmerli
Früher, so erklärte man mir einmal in Paris, früher hätte man in der guten Pariser Gesellschaft einen Christian Dior nie zu sich eingeladen, nicht zu Festivitäten und noch weniger zu Diners. Christian Dior galt als Schneider und damit als Lieferant. Heute dagegen reisst sich alle Welt darum, beim Feilbieten der neuesten Ware gehobener Schneider geladen zu sein. Gemein geworden ist die Durchstilisierung der Garderobe, jede Zimmermädchenrevue instruiert unter Überschriften wie „Die zehn Gesetze des Blazers“ oder „Darf man sich heute noch ins Hemdchen machen?“ über Geschmack und „comme il faut“. Alles ist durch designt, jedermann gestylt. Selbst die beherzte Pose ist zur Allerweltswährung geworden, seit die Ausgangsjugend Wochenende für Wochenende im Blitzlichtgewitter darum ringt, auf den Präsentationsplattformen der Fotografen etwas gesellschaftlichen Glamour oder Bohème-Furor zu simulieren. Entnimmt man dann Wikipedia auch noch, im 20. Jahrhundert habe es ein Revival des Dandys gegeben für das als Beispiel ein Leichtgewicht wie Benjamin von Stuckloch-Barre angeführt wird, kann man nur resigniert seufzen: Das Dandytum hat’s schwer.
In seinen «Mémoires d’un tricheur“ von 1935 schreibt Sacha Guitry über die Pariser Gesellschaft, sie sei in der Mode entweder zwanzig Jahre voraus oder hinterher. Und das illustriert trefflich ein Kriterium des Dandy: Das Unzeitgemässe. Hinzu kommen das unerschütterliche Wissen darum, einer kleinen Elite anzugehören, sowie ein Hang zum Ästhetischen, der sich mit gutem Tuch, feschen Schnitten und attitude heute kaum mehr verkörpern lässt. (Unser Ausnahme-Meier bestätigt die Regel.)
Eine bestechende Neudefinition verdanken wir Mitte der Neunziger dem niederländischen Thinktank Agentur Bilwelt, der den Datendandy ausrief und als eine Figur beschrieb, die ziellos durchs Internetz flaniert und dabei unnützes Wissen sammelt, sich dem Kuriosen, dem Gewitzten und Eigensinnigen, nie aber dem Gewinnbringenden verschreibt. Der wahre Dandy lässt sich für seine Selbsterschaffung stets zu neuen Spleens und verfeinerten Ästhetiken hinreissen, die für ihn taugen, bis die Herde hinterher trampelt oder der Ennui nach neuen Sensationen verlangt. Drum sei hier, im kleinen Kreis würdiger Geister, eine Causa skizziert wie geschaffen für den heutigen Dandy: Der Streit für die Rettung der Hochstrassen. Dieses Jahr wurde mir die Ehre zuteil, Gründungsmitglied der deutschen „Gesellschaft zur Rettung der Hochstrassen“ zu werden. Und gerne würde ich hier sowohl für einen zeitigen Beitritt zum Original als auch für die baldigen Gründung eines helvetischen Ablegers plädoyieren.
Gut lässt sich unsere Sache am Beispiel der Sihlhochstrasse in Zürich durchexerzieren. Im überbordenden Autooptimismus der fünfziger Jahre ersonnen, thront sie auf Stelzen über dem Flussbett der Sihl. Derweil die restlichen Anschlüsse der Stadtautobahnen nie realisiert wurden, ist die Sihlhochstrasse in Sachen Verkehr ein Erfolg, der sich in täglich 50‘000 Fahrzeugen niederschlägt. Allerdings war schon ihr Bau umstritten. Und 1976, gerade drei Jahre nach der Eröffnung, wetterte Max Jäggi in der Schweizer Illustrierten: „Das Monsterbauwerk wurde landesweit zum abschreckenden Beispiel rücksichtsloser Stadtzerstörung durch Hochleistungsstrassen. Auf hässlichen Betonstelzen über dem Sihl-Fluss zwängt sich die Autobahn stadteinwärts. Statt der beschaulichen Aussicht auf den Flusslauf bleibt den Anwohnern heute der Blick auf – oder unter – den Millionen verschlingenden Verkehrskoloss. Ganz abgesehen von Lärm und Gestank.“
Ganz abgesehen davon, dass das Begriffspaar „Lärm und Gestank“ noch heute generell zu den Standardinvektiven gehört, wenn Strassen & Individualverkehr gescholten werden, gibt Jäggi hier die Tonalität für die nächsten dreissig bis vierzig Jahre Sihlhochstrassenkritik vor.
Unisono wird die Presse vom „Schandfleck“ schreiben. Im Gemeinde- und Kantonsrat diskutiert man immer wieder den Abbruch, wobei stets die Hässlichkeit der Sihlstrasse gegeisselt wird. So erklärt 1987 CVP-Kantonsrat Peter von Felten, man schäme sich wegen der “Säulenhalle in der Sihl, die hässlichen Pfeiler (seien) Grabsteine des Flusses und des angrenzenden Erholungsgebiets.“ Jürg Nipkow forderte den raschen Abbruch dieses „städtebaulich scheusslichen Beispiels der Strassenbaueuphorie.“ Messerscharf folgert Walter Linsi, SP, wenn überall von Schandfleck gesprochen werde, so dürfe dieser Abbruch doch nicht am Geld scheitern. Der Wille zum Abbruch unterliegt auch 1987, weil die Mehrheit glaubt, noch brauche man die Strassenkapazität. Worauf das Lokalblatt Tagesanzeiger seufzt: „Der Traum vom befreiten Fluss ist ausgeträumt.“ Selbst Regierungsrat Honegger, ein Abbruchgegner, findet die Sihlhochstrasse sei „ästhetisch, ökologisch und städtebaulich sehr fragwürdig.“ SVP-Regierungsrat Hofmann lässt sicherheitshalber schon mal einen Abrissplan ausarbeiten, und die Stadt Zürich bekräftigt mehrfach, die Strasse unbedingt wegmachen zu wollen. Kurzum, man streitet über den Abbruch-Zeitpunkt eines Bauwerkes, bei dem sich alle einig sind, es handle sich um ein hässliches Übel und Unding.
Nun sind in der Schweiz, die kaum Berufspolitiker kennt und jedem den Hang zur grossen Geste mit direktdemokratischen Prozeduren austreibt, in den Parlamenten vor allem Biedermänner anzutreffen. (Von den Redaktionen gar nicht zu sprechen.)
Dabei müsste man kein besonders sensibler Feingeist sein, um die Schönheit der Sihlhochstrasse zu erkennen, sieht man sie sich erst einmal richtig und in Ruhe an. Wer unter ihr den Gestaden der Sihl entlang flaniert oder radelt, sieht sich mit einer modernen Alle konfrontiert. Was früher Baumstämme und Blätterfirmament waren, sind hier, urban gewendet, Betonstelzen und das Strassendach. Im Sommer ist’s lauschig und angenehm schattig. Von „Lärm und Gestank“ keine Spur, ein Grundrauschen allenfalls, dass den steten Fluss des Sihlwassers tonal aufnimmt. (Und dass das Wiederaufnehmen und -spiegeln von etwas, was schon da ist, durch etwas Neues, stets positiv zu Buche schlägt, weiss nun wirklich jeder, der sich gelegentlich dem Einerlei der Kunst- oder Architekturbesprechungen aussetzt.)
Wenn irgendwelche Westentaschenrousseauisten daher schwadronieren, man müsse die Natur retten und den Fluss befreien, dann sei darauf hingewiesen, dass die Zähmung der Sihl schon im neunzehnten Jahrhundert begann. Mit ihren Begradigungen und aller spätestens mit dem Sihlsee-Speicher von 1937 ist die Sihl ein von Menschenhand geplantes, gelenktes und kontrolliertes Gewässer. Und wer ab und an in Weltgegenden reist, die – anders als die Schweiz – von Naturkräften bedroht und heimgesucht werden, begreift sofort das Liebliche des Gemachten, begreift das Schöne gezähmter Natur. So ist man in México D.F. stolz darauf, mit dem „Segundo Piso“ (Zweites Stockwerk), eine Hochstrasse über dem Periférico gebaut zu haben, die effizient mehr Verkehrskapazität bereitstellt, imposant aussieht, prächtige Sicht bietet und als technisches Wunderwerk selbst starken Erdbeben stand halten kann. Natur! Natur! In der Sihlhochstrasse hat die Natur es sich in Gestalt von Fledermäusen bequem gemacht, die sich schön bedanken würden, risse man aus Naturschwärmerei ihre Behausungen ab. Ausserdem gehört zum Kern des Dandys sein Hang zum Urbanen, ohne Stadt kein Dandy.
An der Sihlhochstrasse betört das Moderne, das Monochrome des Betons, die Schnörkellosigkeit der Einzelelemente, das Serielle, die durch nichts kaschierte Funktionalität, die grosse Geste. Und damit sind wir beim ästhetischen Gehalt, der sich nicht alleine bauwerkimmanent erschliesst, sondern durch den historischen Kontext. Von Reiz ist die Sihlstrasse als Reminiszenz an eine optimistische Vergangenheit. Sie erinnert an die frühen Sechziger, als man noch an Prosperität für alle glaubte, als man unbeleckt von Zweifeln an Wachstum und Machbarkeit war, beseelt vom Wissen um eine bessere Zukunft.
Die Sihlstrasse besticht, weil sie in Form und Materialität an die energischen Projekte der Moderne erinnert und an die Gewissheit, die man vom Bauhaus bis zur Kunstgewerbeschule Zürich teilte: Neue Materialien, klare, einfache Formen, Funktionalität und der Erfindergeist der Ingenieurskunst würden ein besseres Leben für alle, würden eine wohnlichere Sozietät schaffen. Die besondere Anmutung der Sihlhochstrasse entspringt dem Wechselspiel zwischen den Reminiszenzen an die grossen Würfe von ehedem und der leisen Wehmut über ihr Scheitern.
Die klügeren Kritiker spotteten, man müsse die Sihlhochstrasse unter Denkmalschutz stellen als einzigartiges Mahnmal aus einer furchterregenden Zeit, so etwa Roger Anderegg, der in der SonntagsZeitung überdies befand, ihn gemahne „der Stummel, der seit dem Abbruch der Bauarbeiten (für die Anschlüsse) sinnlos ins Leere ragt, ans Heideggersche In-die-Welt-geworfen-sein“.
Da halten wir mit Ernst Bloch dagegen und erklären die Sihlhochstrasse zum Noch-nicht-Seienden einer möglichen, die Realität überschiessenden Utopie, der wir dialektisch die Trauer über das Nicht-mehr-Seiende eben dieser Utopie entgegen stellen. Genau diese Spannung macht uns die Sihlhochstrasse über ihre immanente Schönheit hinaus so reizvoll.
Gewiss, der Kampf für die Sihlhochstrasse aus ästhetischen Gründen ist ein einsames Unterfangen. Aber gerade dem Dandy sei das kontemplative Flanieren per Pedes oder Rad am Ufer entlang der Sihlhochstrasse empfohlen, genauso wie der zügige Beitritt zur „Gesellschaft zum Schutz der Hochstrassen“.
Kontaktadresse: Deutsche „Gesellschaft zur Rettung der Hochtrassen.“, maren.harnack@hcu-hamburg.de, www.hochstrassen.de
Interessenten für eine zu gründende schweizerische „Gesellschaft zur Rettung der Hochstrassen“ melden sich bei haemmerlit@web.de
Kommentar hinterlassen