Die Kolumne aus der SonntagsZeitung vom 21.11.2010
Plötzlich ist Politik & Protest wieder schick. Nach den Streiks in Frankriech, die jeden Herbst so sicher sind wie die Modedefilees, demonstrieren in Stuttgart selbst biedere Bürger gegen die Verlegung ihres Bahnhofs, und vor Gorleben behindern Neuprotestler bei Wind und Wetter die Castor-Atomtransporte. Die Schweizer Variante ist, dass man zur Zeit stolz Zwei-Mal-Nein trägt. Nein zur SVP-Ausschaffungsinitiative. Nein zum Gegenentwurf. Mit viel „I like“-Geklicke auf Facebook bestätigt man sich in den Apple-Milieus gegenseitig die richtige Gesinnung , und im Theater am Neumarkt verlesen Schriftsteller mutig Stellungnahmen für Nein-Nein.
Verwundert nimmt man dabei zur Kenntnis: Nicht nur Elivs lebt. Nein, selbst Franz „Dr Wald isch tot, dr Wald isch tot“ Hohler ramentert herum wie ehedem und verkündet: „Die Ausschaffungsinitiative wird versinken in einem Meer von Ablehnung.“ Der Mann leidet an Visionen. Seinem Meer von Ablehnung widersprechen Erfahrung sowie alle seriösen Umfragen. Die SVP-Initiative dürfte leider angenommen werden.
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Gibt man den Doppel-Neinern zu Bedenken, dass sie wenig Chancen haben und die SVP-Initiative nur mit dem kleineren Übel, dem rechstaatlich vertretbaren Gegenentwurf zu bodigen ist, dann gilt man als Spiesser, Verräter oder gar Faschist. Lieber suhlen sich die Doppelneiner im Glauben: Wenn wir ganz ganz fest dagegen sind, dann schaffen wir’s.
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Mich erinnert das an all die grünen und linken Eiferer, die damals bei der EWR-Abstimmung erklärten, unmöglich könne man für ein kapitalistisches Grossprojekt wie den EWR einstehen, dringend sei ein Zeichen gegen die Globalisierung zu setzen etc. pp. Das Zeichen setzte dann Blocher, in dem er die Abstimmung hauchdünn gewann und seinen ersten grossen Sieg einfuhr.
Mich erinnert es an meine linken amerikanischen Bekannten, die damals als Al Gore gegen George W. Bush zur Wahl stand, lieber den linken Querulanten Ralph Nader wählten, weil Gore ihnen zu nahe beim Grosskapital war. Worauf Bush gewählt wurde, mit Folgen, die noch heute die ganze Welt zu tragen hat. Und es erinnert mich an 2002 als es in Paris en vogue war, den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Jospin zu wenig sozialistisch zu finden und statt dessen linksradikale Splitterkandidaten zu wählen. Jospin schied aus, der Rechtsextremist Le Pen kam in den zweiten Wahlgang, und all die wackeren Protestler und Zeichen-Setzer mussten zähneknischernd den Konservativen Chirac wählen.
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Man braucht kein Prophet zu sein, um voraus zu sagen: Der Doppel-Neiner-Politschick wird auch nach der Abstimmung noch ein wenig zu Gange sein. Wenn die SVP mit ihrer Initiative den Sieg einfährt, werden zu Hauf neue Facebookgrüppchen ihr Entsetzen affichieren, und wer am lautesten lamentiert, wird mit den meisten I-like-Klicks belohnt. Bis der nächste Spleen die Runde macht bei Leuten, die sich für Gesinnungs-Posen, nicht aber für die konkreten Abläufe realer Politik interessieren.
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11 Kommentare
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Daniel Blickenstorfer
Lieber Thomas, strategisch magst du recht haben, das Visier allerdings ist falsch eingestellt. Ich halte es da mit Koni Löpfe im P.S.:
„Wer ein doppeltes Nein für eine sozialistische Werthaltung hält, vergisst, darüber nachzudenken, warum wir in diese Situation kamen, und wer meint, nur mit dem Gegenvorschlag sei ein Nein zur SVP-Initiative möglich, übernimmt eine Verantwortung, die er oder sie nicht hat. Das Ja zur SVP-Initiative haben jene zu verantworten, die am 28. November Ja stimmen.“
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Giorgio Girardet
Danke für die online-Publikation! Max Weber nannte es 1919 den Unterschied zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“. Tatsächliche gibt es eben gerade in der SP eine grosse Lust nach 1919 zurückzukehren. Aber auf unterschiedliche Weise. Levrat nannte Röbi Grimm sein Vorbild. Der Mann, der 1919 wegen Aufruhr im Gefägnis sass und dorten seine „Schweizergeschichte als Geschichte der Klassenkämpfe“ schrieb (1920, zweitauflage 1977!) mit der er die SP über die Bejahung der Landesverteidigung als pragmatische Antikommunistische Kraft in den Bundesrat führte. Und andererseits den wegen hausfriedensbruch verurteilten Wermuth, der für Armee-Abschaffung und Kommunismus und bewaffneten Klassenkampf votiert. Der homo sapiens erträgt nicht lange Friedensepochen, alle drei Generationen müssen sich Männer die Köpfe einschlagen, damit wieder für zwei Generationen Ruhe ist.
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Ugugu
Mit Verlaub, aber die Realos haben einfach viel zu früh die Waffen gestreckt, und zwar bereits nach den ersten wackligen Umfrageresultaten. Mitgegangen, mitgehangen, nix fascho.
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haemmerli (Autor)
@ Blicki
Sorry, aber in dem Fall halte ich es mit dem Strategischen. Oder aber einach simpel gesagt, es gibt drei Fragen, die man so oder anders beantworten oder leer lassen kann. Und darüber gilt es zu streiten. Was Löpfe sagt halte ich für Geschwurbel. Und dass das Doppel-Nein nicht sozialistisch, sondern auch eine liberales Anliegen wäre, darüber brauchst du wenigstens mir mir nicht zu rechten.
@Girardet
Für mich ist die Weber’sche Scheidung in Gesinnungs- und Verantwrotungsethik ein zentraler Pfeiler meines politischen Koordinantensystems. Für kompletten Unsinn halte ich die Unterstellung, der Juso-Chef trete für Kommunismus oder bewaffneten Kampf ein. Dafür gibt es nicht den geringsten Hinweis. Auch wenn Schawinski in einem seiner tumbsten Momente behauptete, weil Wermuth mehr gesellschaftliche Kontrolle in Unternehmen fordere, führe das zur Roten Armee Frakiton. Da würde ich doch raten, dass man sich noch einmal durchliest, was da die Anliegen waren.
@Ugugu
Das Problem ist, dass in dieser Sitaution der Abstimmungskampf nicht dann beginnt, wenn die Medien und Facebook voll davon sind. Man hätte einiges früher beginnen müsse, und ich bin mir auch dann nicht sicher, ob es bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen in der Schweiz möglich gewesen wäre. Wobei: Ich kann mich irren.
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patrizia
lieber thomas. mag sein, strategisch richtig. mag sein, viele linke ’saubermenschen‘, die immer zu spät reagieren, mit innbrunnst auf der richtigen seite fahne schwingend. gruusig war, ist und bleibt die ausarbeitung des gegenvorschlags ohne gegenwehr. und gruusig ist und bleibt ein ja zu alledem. strategie und realismus hin- oder her. bei der initiative ist die möglichkeit, völkerrechtlich dagegen vorzugehen, theoretisch grösser. kein trost. mitnichten. nicht einmal ein argument. doch machen wir uns nichts vor: europa ist diesbezüglich erst am anfang, siehe dänemark. es wird so oder so schlimmeres folgen. und von wegen strategie: eine diesbezügliche fehlt ohnehin gänzlich, vor allem gegen den oligarchie-filz, der die hiesige ‚demokratie‘ offen und schamlos erpresst und zu einem versklavten stricher hat verkommen lassen. also, sich in diesem sinne jetzt gegenseitig vorwürfe machen bringt nichts, zusammen früher weiter und breiter denken wäre besser. denn, ob ich ein schrecken ohne ende oder ein ende mit schrecken wähle, ist weder ethisch noch politisch entscheidbar, nur persönlich. und ich kann nicht ja stimmen, auch wenn es mir selbst den pass kosten könnte. herzlich patrizia
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Eliane Hangartner
Du spukst grosse, arrogante Worte. Ich für meinen Teil halte es verantwortungslos und vor allem rückgratslos, für etwas ja zu stimmen, was falsch ist, nur um etwas, was noch ein bisschen falscher ist, zu verhindern. Der Vergleich mit den Personenwahlen hinkt gewaltig – in diesen Beispielen magst Du mit Deiner Basherei ja recht haben.
Auch wenn das in der heutigen Zeit extrem unmodern geworden sein mag – ich find’s wichtig, gerade in der heutigen Zeit, für die Dinge klar und deutlich einzustehen, an die mensch glaubt. Das nennt sich Rückgrat, oder je nach Sichtweise auch Gewissen. Und hat nichts, aber auch gar nichts mit „Schick“ oder „Eifer“ zu tun. Und, wie es heute Abend Lorenz Keiser bei Giacobbo&Müller auf den Punkt gebracht hat: sich nicht die Hände schmutzig machen mit einem Ja zum Gegenvorschlag!
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haemmerli (Autor)
@Eliane Hangarter: Wenn ich einen Stuss höre, wie „sich nicht die Hände schmutzig machen“, dann finde ich, dass die Qualifizierung „Leuten, die sich für Gesinnungs-Posen, nicht aber für die konkreten Abläufe realer Politik interessieren“ für Keiser recht gut passt. Sich die Hände nicht schmutzig machen, das geht in der Politik nicht.
Und was das für Dinge einstehen anbelangt, geschenkt. Ich nehme für mich in Anspruch genau das hier und mit http://www.votez.ch zu tun. Aber, ich wiederhole mich, nicht für folgenfreie Posen, sondern mit möglichst venünftigem Stimmverhalten. Würde ich nur wählen, was & wen ich wirklich gut fände, könnte ich mein Wahlcouvert genausogut wegschmeissen.
@Patrizia
Ich versteh ja, wenn man ein Ja nicht über sich brigt. Deshalb haben wir die Frage bei votez Stimmfreigabe mit Kommentar gewählt.
An die Aussicht, dass man mit Völkerrecht grössere Chancen hat bei der Ini mag ich nicht glauben. Den am Ende bastelt das Parlament dann etwas.
Und mein Polemikzorn rührt nicht nur von meinen Befürchtungen betreff Annahme der Ini her, sondern auch von der Art, wie Leute abgekanzelt werden, die in guten Treuen deklarieren, man solle für das kleinere Übel stimmen.
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Bea
Danke Haemmerli! Genau meine Rede! Sicher ist es schlimm, dass man für etwas abstimmen muss, wovon man eigentlich lieber die Hände lassen würde. Aber man muss in solchen Fällen taktisch denken. Die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub ist immer unangenehm. Aber man muss sich einfach für das kleinere Übel entscheiden. So ist Politik! Ob es uns gefällt oder nicht..
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Philippe Wampfler
Ich finde den Vorwurf an die Linke, besserwisserisch und herablassend zu sein, kaum fundiert. Dieser Vorwurf spielt sich immer auf einer Meta-Ebene ab: Man kann sich damit das Argumentieren ersparen. In eine ähnliche Richtung geht der in diesem Beitrag geäußerte Vorwurf, 2xNEIN zu stimmen sei chic weil politisch korrekt und in dieser ganzen Selbstgefälligkeit verschwinde die politische Vernunft.
Ich könnte mir sehr gut vorstellen, einem Gegenvorschlag aus den oben genannten Gründen zuzustimmen, würde sich dieser Gegenvorschlag klar vom problematischen Gehalt der Initiative abgrenzen. Fakt ist: Sowohl durch die Initiative wie auch durch den Gegenvorschlag wird am Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, genagt. Und 2xNEIN heißt: Unter keinen Umständen darf sich an diesem Grundsatz etwas ändern.
Da mag man noch so sehr von »Gesinnung«, »Verantwortung«, »realer« und »konkreter« Politik sprechen: Wenn diese Rhetorik dazu führt, dass man sich damit einverstanden erklärt, dass die Verbannungsstrafe in der Schweiz eingeführt wird und die Schweiz das repressivste Land Europas wird, was AusländerInnen betrifft: Dann muss man dazu stehen und kann nicht sagen, man habe nur noch Schlimmeres verhindern wollen.
Wer vor Alternativen gestellt wird, die er beide nicht verantworten kann, sollte nicht zwischen diesen Alternativen wählen.
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Eliane Hangartner
@Haemmerli: Wie gesagt, bei der Personenwahl magst Du recht haben, mach ich auch so. Ich wähle zum Beispiel keine Partei, die ich gerne wählen würde, wenn sie kaum Aussichten auf einen Sitz hat, solange sie keine Listenverbindung mit Partei(en) hat, damit die Stimmen nicht verloren gehen. Oder ich habe auch Diener gewählt, um Maurer zu verhindern (wobei, dafür haben wir ihn jetzt als Bundesrat 🙁 da wäre er als Ständerat wohl das kleinere Übel gewesen, aber das als Nebenbemerkung). Und es gibt auch durchaus Themen, wo das zulässig sein mag. Oder anders, es gibt Themen bzw. Vorlagen, die sich innerhalb bestimmter Grenzen von meiner Haltung unterscheiden, wo ich durchaus finde, dass taktieren Sinn macht, zulässig ist, was auch immer. Aber es gibt Vorlagen, die sprengen diese Grenzen klar und deutlich. Und dort find ich nicht Haltungen wie die von Keiser lächerlich, sondern Deine! Aber das wird Dich in Deiner Arroganz nicht beeindrucken, das ist ok (war früher auch mal so drauf wie Du…).
Aber, mal davon ganz abgesehen, verstehe ich schon seit Tagen nicht, worin die taktische Chance bestehen sollte, die Initiative verhindern zu können unter Umständen, in dem der Gegenvorschlag mit Ja angenommen wird. Wenn über 50% für die Initiative sind, und diese anzunehmenderweise auch das Kreuz bei der Initiative und nicht beim Gegenvorschlag machen, dann ist die Sache so oder so gelaufen….
Auf diese Idee ist offensichtlich inzwischen auch ein Journi gekommen, sich das mal genau zu überlegen:
http://www.davidbauer.ch/2010/.....enkfehler/
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haemmerli (Autor)
@ Eliane Hangarter. Im meiner grenzenlosen Arroganz halte ich auch die Aussage, es wäre besser gewesen, Maurer wäre statt Diener in den Ständerat gewählt worden für Quatsch. Dann hätte man nämmlich mit Maurer einen SVPler mehr im Ständerat und einen anderen SVPler im Bundesrat.
Lorenz Keiser halte ich für lächerlich, weil es egal ist ob jemand eine wertlose Stimme einwirft, weil er sich die Hände nicht schmutzig machen will, oder ob er gar nicht stimmen geht, weil er zu faul ist oder sonst etwas. Punkt ist: Es bringt fürs Ergebnis nix, mit wie viel Stimmen man verliert.
Nun zur bedenkenswerten Argumentation von Bauer: Der entscheidende Satz findet sich im update: „Unter dieser Voraussetzung besteht eine geringe Chance, mit einem taktischen Ja zum Gegenvorschlag die Ausschaffungsinitiative zu verhindern.“ Ein realistisches Szenario für Nein-Nein finde ich bei Bauer nicht. QED
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