Die Kolumne aus der SonntagsZeitung vom 15.08.2010
In Georgien begegnete mir die Künstlertruppe Slavs and Tartars, die sich mit alten kaukasischen Mythen wie dem Brautraub beschäftigt. Brautraub gehört mit dem Harem zu den Orient-Sagas, die im Abendland stets schwüle Fantasien weckten.
Allerdings fiel mir unlängst eine Studie aus dem Sizilien der Fünfziger in die Hände. Da klang alles genau gleich: Eine religiös umnachtete Hinterwäldlerkultur verlangt, dass Frauen nur mit intaktem Jungfernhäutchen heiraten können. Deshalb verschleppen Testosteron-geladene junge Männer gewaltsam die Begehrte und vollziehen präventiv die Ehe, um sich als einziger möglicher Gatte zu präsentieren. Abhängig von Statusfragen, dem Temperament der Geschändeten sowie dem Verhandlungsgeschick des Entführers bieten sich drei Auswege an: Die junge Frau nimmt sich das Leben. Ihre Familie beginnt eine Vendetta. Oder es wird halt geheiratet.
Mit meinem Fremdenführer, einem gebildeten Germanisten, der für mich simultan übersetzte und in den Pausen Balzac verschlang, fuhr ich durch den Kaukasus. Ich las «Ali und Nino», Kurban Saids berühmten Roman aus Baku, in dem die Widrigkeiten einer regulären Eheschliessung beschrieben sind. Des Bräutigams Feinde beten, er möge von Impotenz befallen werden, derweil seine Freunde Gegenbeschwörungen flüstern. Im Schlafzimmer erscheint die Braut verschnürt in einem Saffianlederkorsett, das von komplizierten Knoten zusammengehalten wird. Die muss der Bräutigam lösen, ohne sie zu zerschneiden, will er sich nicht zum Gespött machen. Wahrscheinlich soll der junge Mann darauf vorbereitet werden, dass Ehe kein Zuckerschlecken, sondern ein mühseliges Unterfangen ist, bei dem vertrackte Probleme gelöst, Schwellkörper gehisst, Hymen durchstossen und auch sonst Widrigkeiten bestanden werden wollen.
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Jungfräulichkeit wird in der Region nach wie vor hochgehalten, und dass in Georgien neue Kirchenbauten spriessen wie Pickel auf schlecht ernährten Teenagern, lässt keine Besserung erwarten. Meinen Germanisten fragte ich, wie es komme, dass er, kaum Vierzig, schon erwachsene Kinder habe. Er sei Student gewesen, seine Freundin siebzehn und ihre Eltern gegen überstürztes Heiraten. Er habe nicht länger warten wollen und die Freundin in ein vorgebliches Taxi verfrachtet. Am Steuer ein guter Freund, sei man ohne Federlesens in die Berge gefahren. Er habe ihre Eltern vor vollendete Tatsachen gestellt. Es habe dann ja alles prima geklappt.
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2 Kommentare
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andrea lehrer
lieber herr haemmerli
mit interesse habe ich Ihre kolumne von heute gelesen über georgien. da ich kürzlich liebe freunde dort besucht habe, habe ich noch immer „heimweh“. ich war erstmals dort und fand das land interessant und die leute sehr freundlich. haben Sie mal lust und zeit für einen lunch über über georgien zu sprechen? mich würden Ihre erfahrungen interessieren und vielleicht Sie meine. würde Sie gerne einladen. z.b. im fischers fritz oder in den dolder golfclub. was immer. meine „referenzen“: habe lange im tourismus gearbeitet und dann 15 jahre bei bernie’s (kleider) und bin einfach eine neugierige und interessierte person.
noch einen schönen sonntag abend und freundlichen gruss
andrea lehrer
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haemmerli (Autor)
Liebe Frau Lehrer
haben Sie herzlichen Dank. Das könnte man mal machen. Ich bin allerdings noch immer in Georgien. Ich bin zum zweiten Mal hier und finde auch: Die Leute sind äuserst gastrfreundlich, Wein und Essen sind eine Freude und das touristische Potenzial von Georgien scheint mir gigantisch. Mit freundlichen Grüssen Thomas Haemmerli
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