Die Kolumne aus der SonntagsZeitung vom 14.03.2010
Was Medien bringen, das steuert der Konsument, was er einschaltet, was er klickt, was er liebt, das kriegt er gehäuft. Deshalb gibt es immer mehr Sternchen-Stories, Exklusivberichte direkt aus Slips und Unterhosen sowie Verbrechen Verbrechen Verbrechen. Kriminalsagas packen uns, weil wir fürchten, es werde alles immer schlimmer. Sie lassen die eigenen vier Wände als umfriedeten Hort in einer bösen Welt erscheinen, und sie verschaffen dieses wohlige Frösteln, wenn man sich vorstellt, man hätte selbst das Opfer sein können.
Darum bin ich in Mexico City goldrichtig. Mehr Crime-Fröstelei ist nicht möglich. Im Universal lese ich, dass sich die Zahl der Toten des Drogenkrieges gestern um 43 auf 1776 erhöht hat. Denn im Staatsgefängnis Aquiles Serdán haben sich 400 Mexicles aus Block 3d3 Zugang zu Block 4d2 verschafft, wo die Konkurrenz von La Línea einsitzt, um zu klären, wer im Knast der Chef ist. Dass am gleichenTag die Gemeindeverwaltung in Papasquiaro mit Splittergranaten angegriffen worden ist, und dass in Petatlán nach einem Attentat auf das Heim des Polizeichefs 20 Beamte zurück getreten sind, kommt nur gerade in den Kurznachrichten.
Die Hälfte aller Verbrechen wird gar nicht erst gemeldet, weil der Hauptstädter Anzeigen als Zeitverschwendung erachtet. Meine Freunde haben mir eingeschärft, bei Dunkelheit nicht auf der Strasse zu gehen und warnen dringlicher davor, Taxis anzuhalten, weil oft ein Komplize warte, so dass man nicht nur ausgeraubt, sondern entführt werde. Entsprechende Exempel hat hier jeder auf Lager. Eingebrannt hat sich mir die Erzählung von einem Entführten, der sich nur über den ersten abgeschnittenen Finger empört und sich danach seinem Schicksal ergeben habe.
Ich fühle mit ihnen, Leser, die Sie sich in Helvetien den Hintern abfrieren und in Sachen Crime-Sensationen vorlieb nehmen müssen mit den seltenen Kapitalverbrechen, Geschwindigkeitskriminellen und der Schlägerei vor dem Disco-Pub Hinwil.
Ein Blick in ein paar Zeitungen Mexicos in den letzten Tagen sieht so aus:
Moment: Nachtrag. Die Bilder sind relativ heftig, so dass man sie sich zu muten kann oder nicht. Es ist auf jedenfall nicht das Schlimmste, was hier an Mexicos Kiosken verkauft wird. Ansonsten scheint mir, wie in dem Beitrag „Der Tod in den Medien“ für die Ausstellung „Last Exit“ und meiner Kolumne schon mehrfach dar gelegt, die Perversion nicht, wenn man Tote abbildet. Pervers scheint mir, dass Kriege geführt werden und Gräuel verübt werden, es in Europa aber ein Bildertabu gibt. Frösteln ja bitte, aber nicht zu herftig.
.
.
.
.
.
.
.
Kommentar hinterlassen // RSS-Feed mit Kommentaren zu diesem Beitrag
2 Kommentare
1
Nadja von Ah
Lieber Hämmerli,
ich bin sprachlos und verwundet. Nein, ein wohliges Frösteln rufen solche Bilder und Berichte bei mir nicht hervor. Nicht im Geringsten. Höchstens die immer wiederkehrende Frage über die Abgründe des Menschen und was uns antreibt zu solchen Taten. Ich sage „uns“ weil ich uns, auch mich, nicht davon freisprechen kann, dass wir im gegebenen Moment unter gegebenen Umständen, nicht genauso fähig wären zu solchen Taten. Das ist der Mensch. Der Hunger und das Elend alleine kann es nicht sein. Denn den gibt es auch auf anderen, friedlicheren Teilen, der Erde.
Ich habe keine befriedigende Antwort darauf…
Hinter Gewalt und Wut steht immer ein gewisses Mass an Ohnmacht, an Machtlosigkeit und je grösser der Gruppe oder des einen Menschen Trieb nach Macht und Anerkennung ist, umso breitwilliger wird er wohl auch diese gewünschte Macht mit Nachdruck durchzusetzten versuchen. Mit den Mitteln die er eben hat, die ihm zur Verfügung stehen. Auch – gerade – mit Gewalt.
Gewalt wird auf der ganzen Welt eingesetzt, physische, psychische, militärische, familiäre, sexuelle, gesellschaftliche, schulische Gewalt. Sie kommt in solch unzähligen und verschiedenen Formen und mit so unterschiedlichen Gesichtern daher, dass sie nicht immer auf den ersten Blick so leicht zu erkennen ist wie hier – in Mexico. Das ist vielleicht die brutalste – aber ehrlichste, rudimentärste Form von Gewalt. Grauenhaft. Man haftet am Grauen. Sie schreit: „ICH WILL!“ und „ICH WILL NICHT MEHR!“ „Ich vernichte Dich, weil ich mich selbst schon lange hasse!“ Sie wünscht nicht, sie fragt und bittet nicht. Sie verlangt. Tut sie das? Verlangt sie noch? Oder hat sie in dem Masse bereits aufgegeben zu verlangen und ist nur noch ein automatisiertes Handeln weil auch das Verlangen ignoriert wird? Ein tollwütiges um sich rasendes Monster.
Ich sage nicht Tier, den Tiere tun sowas nicht…
Der Mensch schon.
Was treibt uns?
Was macht uns fähig unsere Mitmenschen so zu unterdrücken,
zu schlachten, zu hassen oder noch schlimmer, ihrem Schicksal mit solcher Gleichgültigkeit zu begegnen? Das wilde Rasen der Mörder und Täter , aber auch die Gleichgültigkeit der Zuschauer am anderen Ende der Welt, hinter den TV- und Computerscheiben, hinter Mikrophonen, Kameras und Schreibmaschinentasten.
Wie lange schauen wir zu? Was tun wir? Was können wir tun? Was können wir ändern? In Mexico selbst sicher nicht viel. Bei uns? In unseren Beziehungen? In unserem System? In unserer Einstellung? Wo wird der Samen zu solchen Taten gesäht? Wo ist er bei uns? Wo ist unser eigener kleiner, fieser Hass? Wo sitzt die Angst? Unsere Unzulänglichkeit, Gier oder Verzweiflung die uns vielleicht zu ähnlichem, wenn auch mit einem anderen Gesicht, antreibt.
Man kann Leid nicht mit Leid vergleichen. Jedem ist das Seine, das Nächste und Schlimmste. Und jeder kreiert sich seine eigene perfekte Hölle wenn er den Himmel in sich nicht finden kann. Denn nur wir selbst wissen, woran wir am meisten Leiden. So erschaffen wir diese Universen von Gewalt und Leid, Schmerz und Ohnmacht. Um uns zu erleben, zu erfahren und zu spühren und um unseren Dämonen freie Wildbahn zu geben. In dem Moment in dem wir keinen anderen Ausweg sehen. Weil wir „Mensch“ sind.
Mit etwas Liebe, Vernunft und einer guten Portion Glück kommen wir durch ohne dass es uns so ergeht, wie den Menschen auf den Bildern oder den Tätern dieser Opfer. Aber wenn wir die Welt ansehen, die Kriege und die Armut um uns herum und die Menschen zählen die dabei zu Opfern werden – sind wir in der klaren Minderheit. Wir sollten unsere priviligierte Stellung nutzen was Positives zu schaffen im Leben, statt übers Wetter zu reklamieren oder uns über Nachbars Lumpi zu echauffieren.
Nadja
2
haemmerli (Autor)
Herzlichen Dank, Nadja. Mir geht es momentan auch so, ich bin ständig ein wenig schockiert und ratlos. Die Bilder sind noch nicht mal das Schlimmste, was man hier am Kiosk serviert kriegt. Gleichzeitig lese ich gerade Bolaños fantastisches Buch „2666“ über die Frauenmorde im Norden Mexicos, das die Kritik überall so begeistert hat. Was hier schon viel ist, weil die Politik lange bestritten hat, dass es das überhaupt gebe. In der Regel sind arme Fabrikarbeiterinnen oder Prostituiert die Opfer, und das ist die Empörung natürlich nicht allzu gross. Einen guten Teil der Gewalt in Mexico kommt von der Kraft der unglaublichen Geldmengen, die die Drogenmafia mit dem Export in die USA verdienen kann. Bei den Youngsters die zur Mafia gehen, heisst es lieber ein paar gute Jahre und dan sterben als ständig der Depp und Unterhund sein. Aber auch das erlärt es nicht richtig. Ich bin schon lange der Auffassung, dass es in allen Gesellschaften immer dieses sadistisches Gewaltpotenzial gibt. Siehe Deutschland. Und lese hier fassunglos Zeitungen. Deshalb habe ich eine – für meine Verhältnisse – so moralische Kolumne gewschrieben. Die Freude des helvetischen Konsumenten an Kriminalia und die Willfährigkeit, mit der sie bedient wird, sieht aus Mex-Perspektive einfach ein wenig schrumm aus.
Kommentar hinterlassen