Die Kolumne aus der SonntagsZeitung vom 27.09.2009
Thomas Haemmerli
Lenin spottete einst: «Wollen deutsche Revolutionäre einen Bahnhof stürmen, kaufen sie erst eine Bahnsteigkarte!» Als ich ein junger Radikalinski war, mokierten wir uns über die Berliner Autonomen, die bei Rotlicht keine Fussgängerstreifen überquerten. Unsereins dachte: Ob Nazi oder Kommunist, der Deutsche bleibt ein obrigkeitsgläubiges Schaf, das sich selbst von Ampel-Lämpchen kujonieren lässt. Obwohl bei freier Strasse doch jedes Fünkchen Verstand schreit: «Lauf los!»
Als Schweizer wächst man mit Rebellionsmythen auf, etwa mit dem Terroristen Wilhelm Tell, der einen Bürokraten mordete, weil der meinte, es reiche eine Vorschrift, auf dass man seinen Hut grüsse. Vor Jahren wurde Marcel Bertschi, damals der härteste Staatsanwalt, gefragt, ob er mit dem Velo bei Rot stoppen würde. Das damalige Verständnis war: Anhalten wäre ja absurd. Bertschi, so unnachgiebig er Gesetzesverstösse verfolgen mochte, parierte souverän, indem er seine Zurechnungsfähigkeit unter Beweis stellte und erklärte, natürlich radle auch er bei Rotlicht über leere Kreuzungen. Heute dagegen ist in Zürich wieder das Ampel-Gesslertum zu Gange. Eine Bekannte, die zu arm ist, um Bus fahren zu können, klagte mir, die Staatsbüttel hätten ihr 160 Franken wegen Missachtung eines Rotlichts abgeknöpft. In der Presse brüstet sich der umtriebige FDP-Gemeinderat Monjek Rosenheim, die aufwendigen Polizeikontrollen gegen Velos hätte er ausgelöst, und überhaupt, Velofahrer seien ja nicht per se gut. Doch, Rosenheim, sind sie. Sie nützen die Strasse weniger ab, tun etwas für die Volksgesundheit, verbrauchen keine fossilen Brennstoffe, und sie benutzen keine öffentlichen Verkehrsmittel, die wegen der Unfähigkeit der Politkaste chronisch überfüllt sind. Am Wichtigsten aber: Einer, der radelt, statt im Wagen zu fahren, verstopft nicht knappen Strassenraum und schnappt mir auch keinen der – eh praktisch ausgerotteten – Parkplätze weg, wenn ich mit dem Auto dringende Eildepeschen ausfahren muss!
Kurz und gut, die 160 Franken sind eine Frechheit, denn man pedalt ja nicht übers Rotlicht, weil man gegen Vortrittsregelungen wäre, sondern weil sie im konkreten Fall genauso absurd sind wie der Kauf einer Bahnsteigkarte während einer Rebellion.
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